Gesellschaftliche Verhältnisse sozialer Ungleichheit

Vorüberlegungen mit Blick auf das Diskussionspodium zu „Soziale Arbeit – Soziale Ungleichheit“ am 20. September

«Wir sind die 99%.» ist eine Feststellung, eine Feststellung von Ungleichheit, sozialer Ungleichheit.

«Vermögen» in Form materiellen Reichtums und den damit einhergehenden (gesellschaftlichen) Gestaltungsmöglichkeiten kommt den Menschen in unseren Gesellschaften ungleich zu; die Feststellung drückt ein numerisches Verhältnis aus, 1:99, ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis, 1+99=100.

Mit dem Benennen «der 99%» sind über Statistik hinaus (bzw. darin/darunter) empirische Realitäten ausgedrückt sowie politische Ansprüche gestellt und Forderungen formuliert. Es geht dabei nicht nur um Verteilungsproblematik zwischen einzelnen Gesellschaftsmitgliedern, sondern gerade auch um gesellschafts-immanente Verhältnismässigkeiten in Bezug auf demokratische (Mit)Gestaltung.

Mit der 99% Initiative steht in der Schweiz kommenden Herbst eine sozial fortschrittliche Perspektive zur politischen Disposition, damit mittels höherer «Besteuerung von Kapitaleinkommen (Zinsen, Dividenden, etc.) […] die Einkommenssteuern für Personen mit tiefen und mittleren Arbeitseinkommen gesenkt oder in die soziale Wohlfahrt wie Familienleistungen, Bildung und Gesundheit investiert werden» könnten. Grundsätzlicher und normativ ausgedrückt: die gesellschaftlich erarbeitete Wertschöpfung soll nicht (mehr länger und stetig zunehmend) im Privatbesitz des einen Prozents angehäuft werden, sondern der Gesamtgesellschaft zu deren (Wohlfahrts-)Gestaltung zugutekommen.

grobgedanklicher Einwurf:
David Graeber, an der Occupy (Wallstreet) Bewegung intellektuell und aktivistisch beteiligt und dabei (auch kritisch) engagiert, thematisierte im Buch Bürokratie (2015) den Umstand, dass in Gesellschaften, wo sich neoliberale Gesinnung (mit ihrer Doktrin «schlanken Staates») in ökonomischer und politischer Praxis massgeblich durchgesetzt hat, kontrollierende Bürokratie ungeheuren Ausmasses festzustellen ist. Und mit Bullshit Jobs (2018) verstärkte Graeber die (zumeist ungehörten) Stimmen von Menschen, deren Erwerbsarbeit von stumpfsinniger sowie gesellschaftlich nicht relevanter (bzw. wachstumsleeraufender) Tätigkeit geprägt sind und deren prekäre Lebenslagen eine Vielzahl in ähnlicher Weise teilt.

Die Thematik der 99% ist eine der Sozialen Arbeit.

Das Bündnis politische Soziale Arbeit bildetete sich im Kontext einer vom schweizerischen Parlament ausgearbeiteten Änderung des ATSG, mit welcher die juristische Grundlage für die Überwachung von Menschen, die (öffentliche) Sozialleistungen beziehen, geschaffen wurde. Sozialarbeitende und angehende Sozialarbeitende aus Hochschule, Lehre, Forschung und Praxis engagierten sich im Abstimmungskampf (für das Referendum) gegen diese Gesetzesvorlage, da sie solche übergriffige Überwachung zur bürokratischen Kontrolle aus fachlicher Sicht als fehlgeleitet und politisch als illegitim befanden (siehe dazu die Argumentation von Widmer/Legatis/Studer verfasst für die Fachzeitschrift für Soziale Arbeit Sozialaktuell Nr.11, 2018). Das Bündnis befasst sich bis heute mit der Thematik gesamtgesellschaftlicher Betrachtung und Analyse sozialarbeiterischer Involviertheit.

Auf der Ebene der «Verteilung», wo 99 Prozent der Bevölkerung mit einem kleinen Bruchteil des gesellschaftlichen Reichtums auskommen müssen, federt Sozialarbeit allzu krasse Armut ab, erbringt Hilfestellungen und soziale Integrationsleistungen und trägt fachlich zur gesellschaftlichen Kohäsion bei. Auf Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse ist in sozialarbeiterischem Kontext zwar zuweilen von «sozialer Gerechtigkeit» und -«Transformation» die Sprache, allerdings verbleibt der Fokus dabei eher im Rahmen der 99 und das eine Prozent vermag kaum in Verhältnis gebracht zu werden; stattdessen werden «soziale Probleme» diagnostiziert und individualisiert bearbeitet Dabei wird einiges an Aufmerksamkeit, Energie und finanziellen Mitteln in «innovative Methoden» der Operationalisierung im Umgang mit und der Verwaltung von Menschen und deren Leben verwandt. Soziale Arbeit wird durch staatlich orchestrierte («soziale») Transferleistungen finanziert; der Staat, das sind zwar in der repräsentationsdemokratischen Betrachtungsweise «wir alle» (ausschliesslich, wer nicht Stimmberechtigt ist, und das sind viele nicht), allerdings liess und lässt sich – die Pandemie stellte sich diesbezüglich als Brennglas heraus – feststellen, dass Reichtum privatisiert, gesellschaftliche Kosten aber kollektiviert, sprich v.a. auf die 99% abgewälzt werden.

Die Besitzer*innen der überwältigenden Masse an Privateigentum, sei es angehäuft oder angelegt, in gesellschaftliche Verantwortung zu ziehen, scheint derweil beinahe unmöglich. Ökonomisches Wachstum, das Erschliessen “neuer Märkte”, Investition in gewinnversprechende Vorhaben, etc. werden gemeinhin als “unternehmerisch” geadelt und als fortschrittlich dargestellt. Derartiges “Wirtschaften” wird als notwendige Bedingung sozialer Wohlfahrt verstanden und solche Praktiken erfolgreich Ausführenden liegt sprichwörtlich und materiell die Welt zu Füssen. Derweil haben die Verlierer*innen der ständigen Konkurrenzkämpfe mit verknappten, detailliert auskalibrierten und überwachten Budgets hauszuhalten. Unter Abstützung auf öffentliches Recht wird im Begriff der “Schadensminderungspflicht” unverhohlen ausgedrückt, dass Menschen, die durch die soziale Wohlfahrt finanziell Unterstützt werden, der Gesellschaft im Prinzip schädlich seien. Seit Jahren kommen die Sozialwerke zunehmend und chronifiziert unter Druck und die durch sie wirtschaftlich abgesicherten Gesellschaftsmitglieder werden argwöhnisch auf Veruntreuung abgetastet. Dabei stellt etwa die Überwachung durch «Sozialdetektiv*innen» eine outgesourcede Kontrollinstanz dar, welche auch innerhalb sozialarbeiterischer Tätigkeitsfelder mehr und mehr zur Norm wird – ersichtlich wurde dies etwa unlängst in Basel Landschaft (siehe dazu BaZ-Artikel). Zugleich wird aus sozialarbeiterischem Bemühen ein Zwang zur «Arbeitsintegration», Sozialdisziplinierung mit Übergriffigkeit und fragwürdiger Beschäftigungsmanier (siehe dazu die Auseinandersetzungen vonseiten Kurt Wyss – etwa im 163. Kommentar zur Zeit ).

Dabei könnte Soziale Arbeit in demokratischer statt disziplinierender Weise Gesellschafts-gestaltend verstanden werden. Wenn es im demokratisierenden Streben darum geht, dass darauf hingearbeitet wird, dass alle Menschen einer Gesellschaft solche gerade dadurch mitzugestalten vermögen, indem sie «ihre Geschicke in die eigenen Hände» nehmen, so verweist dies auf eine spezifische Bedeutung von «Selbstverantwortung». Dieser in neoliberaler Individualisierung geführte Kampfbegriff ist in demokratisierend-sozialarbeiterischem Sinne als Ziel erhöhter Mündigkeit bei den Einzelnen hin zu grösserem Umfang kollektiver Selbstbestimmung – also demokratischer Gesellschaftsgestaltung – zu verstehen bzw. notwendigerweise offensiv zurückzuverstehen. Es geht dementsprechend darum, dass sich alle gesellschaftlich und politisch selbst verantworten (können).

So wären sozialarbeiterisch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse – auf (räpresantativ-)politischer Ebene wie auch und gerade in «kleinen» Interaktionssituationen – zugunsten von «Komplexitätsreduktion» und «sozialer Diagnose» in den theoretischen und praktischen Fokus zu rücken. Eine durch alle ihre Mitglieder gestaltete und gestaltbare Gesellschaft als Grundprämisse und Ausrichtung sozialarbeiterischer Fachlichkeit hat der Aggression profitgeleiteter Partikularinteressen wie sie in den Privatisierungs-/Ökonomisierungstendenzen von Träger*innenschaften im/des «Sozialen» (Beispiele dafür sind etwa Überwachungsfirmen wie auch Firmen, die die Unterbringung von Asyl suchenden Menschen vollziehen), dem Zurückdrängen des (Sozial-)Raumes öffentlicher Begegnung und Aushandlung mittels Gentrifierungsprozessen wie auch polit-medialer Darstellung, Reproduktion und Verschärfung von Sozialschmarotzerdiskursen und zunehmender Dienstleistungsorientierung sozialarbeiterischer Tätigkeit sichtbar werden, kritisch zu begegnen. Soziale Arbeit hat sich der Frage sozialer Ungleichheit und darin insbesondere gesellschaftlicher Verhältnisse und Verhältnismässigkeit zu stellen; dabei kommt der Verwaltung und «Verteilung» des Reichtums aus gesellschaftlicher Wertschöpfung – und solche auch entschieden als Gesellschaftliche begreifend – grundlegende Bedeutung zu. Die Mittel, welche sozialarbeiterisch zur Verfügung stehen, sind gesellschaftliche Mittel. Eine offensive Auseinandersetzung mit dem Thema der 99% im Verhältnis zum einen Prozent «Vermögender» (immens reich und mächtiger Menschen) ist daher angezeigt und Stellungnahme zur anstehenden «Volksinitiative» mehr als angebracht.

Das Bündnis politische Soziale Arbeit lädt aus diesem Anlass am 20. September zur Diskussion ein.

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