Emanzipation von der proletarischen Existenzsituation!

Gedanken zum 1. Mai 2020

In seiner Auseinandersetzung mit Aspekten der Befreiung bei Spinoza und Marx artikuliert Karl Reitter den Begriff proletarische Existenzsituation. Dieser beschreibt ein durch Unterdrückung geprägtes soziales Verhältnis, welches es gesellschaftlich zu überwinden gilt und verweist somit „auf die eigentliche Dimension von Befreiungsprozessen“.

Während proletarisch den (Zwang zum) Verkauf der eigenen Arbeitskraft – also die (Haupt-)Bedingung der Ausbeutung im Kapitalverhältnis – beschreibt, drückt Existenz aus, dass dieses Unterdrückungsverhältnis „die gesamte Lebensführung“ der Betroffenen umfasst – Stichwort „Hamsterrad“. Und mit Situation wird die Kontingenz – also die Einsicht, dass es auch anders sein kann – betont. „Situation verweist auf die Möglichkeit, anders und besser zu Leben. … Streichen wir den Ausdruck Situation aus unserer Formel der proletarischen Existenzsituation heraus, so streichen wir alle Hoffnung, alle widerständigen Momente, den Prozess der Befreiung“.

Es gibt eine Vielzahl sozialer Unterdrückungsverhältnisse, welche sich nicht alle auf das Kapitalverhältnis reduzieren lassen. In der proletarischen Existenzsituation sind allerdings Bedingungen von Fremdbestimmtheit ausgedrückt, welche Unterdrückung in vielerlei Arten stützt und zementiert. In die Risse dieses sich immer wieder – und in stets sich angepasst erscheinenden Formen – gesellschaftlichen Betons, treiben wir unsere Wurzeln des Befreiungsanspruchs, des kritischen Denkens und der emanzipatorischen Solidarität. Immerzu und insbesondere am 1. Mai, an dem die unterschiedlichen Formen der Unterdrückung über Grenzen hinweg zu einem Moment des gemeinsamen Widerstandes zusammentreffen.

Die aktuelle Situation wird „vorübergehen“. Das emanzipatorische Moment am 1. Mai besteht im Erheben des Anspruchs, dass sie, die gegenwärtige Sitaution, in Überwindung von Unterdrückungsverhältnissen zu einer anderen wird.

Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung geht einher mit der Vorstellung von solidarisch ausgerichteten gesellschaftlichen Bedingungen, in Bezug auf Arbeit mit dem Anspruch des „in Freiheit Tätigseins“. Insofern solche Bedingungen nicht gegeben sind, ist der heutige Tag der Arbeit – erneut – ein Kampftag.

„Der Prozess der Befreiung ist … mit einem doppelten Problem konfrontiert. Er vollzieht sich auf der Ebene der alltäglichen, sozialen Verhältnisse und ist zugleich mit der – zumeist – ihm feindlichen politischen Staatsmacht konfrontiert.“

Beispiel zur Veranschaulichung:


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Dieser Text wurde geschrieben in Referenz auf:

Reitter, Karl 2022. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens. Prozesse der Befreiung. Verlag Westfälisches Dampfboot. Münster. Seiten 117-122 und 479.