Zur Kritik des Nationalismus aus Sicht Sozialer Arbeit

Ein Beitrag aus aktuellem Anlass zur Volksabstimmung der Begrenzungsinitiative am 27. September 2020

Ausgangslage

Während der sogenannten Corona-Krise im Frühling 2020 ist eine autoritäre und nationale Verhärtung innerhalb der Nationalstaaten zu registrieren. Nationale Grenzen wurden in vielerlei Hinsicht hochgefahren. In Folge der Krise wird von verschiedenen Seiten ein Anstieg der Arbeitslosenzahlen und eine wirtschaftliche Rezession prognostiziert. Umso nachdenklicher stimmt, dass die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Begrenzungsinitiative, welche am 27. September 2020 zur Abstimmung kommt, in den Medien bisher eher knapp ausfällt. Die damit einhergehende Thematik rund um nationale Grenzen und nationale Wirtschaftshoheit wird nicht wirklich systematisch diskutiert. Jedenfalls ist es aus unserer Sicht notwendig, sich inhaltlich mit den zentralen Bestrebungen der Initiative zu beschäftigen. Denn bei der Begrenzungsinitiative handelt es sich im Kern um eine nationalistische Rechtfertigung sozialer Ungleichheit, die eine progressive Kritik am Nationalismus notwendig macht, gerade auch aus Sicht der Sozialen Arbeit.

Der vorliegende Beitrag liefert einen ersten Schritt zu einer gesellschaftskritischen und gesellschaftstheoretischen Sicht auf die nationalstaatlichen Zusammenhänge im Kontext der vergangenen oder erst richtig anlaufenden Krise. Gerade im Hinblick auf die absehbaren, europaweiten Tendenzen eines weiteren nationalistischen Rechtsrutsch und der Zunahme rechtsextremer Thematiken in der Gesellschaft im Moment der wirtschaftlichen Krise, braucht es ein Bewusstsein demokratisierender Elemente, vom Standpunkt der politischen Sozialen Arbeit.

Einleitung

Globalisierte Lieferketten ermöglichen uns den Konsum von Produkten, die auf der ganzen Welt hergestellt werden, mit dem Schweizer Pass ist ein selbstverständliches und grenzenlos Reisen möglich und das Studieren und Arbeiten in den entferntesten Ländern der Welt ist damit kein Problem. Das Denken in Nationalstaaten scheint auf den ersten Blick in der globalisierten, transnationalen und kosmopolitischen Welt des 21. Jahrhunderts überholt. Gleichzeitig erstarken in der Tendenz überall auf der Welt rechtsnationale und rechtspopulistische Regierungen. Es ist in hohem Mass widersprüchlich: Für Waren und gewisse Menschengruppen, wie gut ausgebildete Fachpersonen, gibt es kaum mehr Grenzen. Für gewisse Menschen, wie Geflüchtete und auf dem Arbeitsmarkt nicht verwertbare, werden die Grenzen der Nationalstaaten immer mehr geschlossen. Für welche Arbeitskräfte das grenzüberschreitende Arbeiten noch möglich ist, ist also in erster Linie abhängig von ökonomischen Verwertungslogiken. Gerade in der Covid-19-Krise haben sich die Abhängigkeiten der lokalen Wirtschaften von den ausländischen Arbeitskräften in besonderer Weise gezeigt. Diese Widersprüchlichkeiten sind ganz grundlegend in der europäischen Regelung der Personenfreizügigkeit angelegt und erschweren so eine angemessene Kritik: Kaum jemand will ernsthaft zu den geschlossenen Grenzen mit Schlagbäumen und Zöllner*innen zurück, viele schätzen die Möglichkeit der unkomplizierten Grenzübergänge innerhalb Europas. Gleichzeitig ist mit der europäischen Personenfreizügigkeit eine verstärkte Abgrenzung an der europäischen Grenze verbunden. Welche fürchterlichen Folgen die „Festung Europa“ für Geflüchtete hat, zeigte Jean Ziegler, ehemaliger UNO-Sonderberichterstatter, unlängst in seiner Auseinandersetzung mit den griechischen Lagern an den Grenzen Europas (Ziegler 2020).

Nationalismus während Corona

In der Krise wurde medial und öffentlich viel Solidarität kundgetan, so beispielsweise über quartierbezogene Nachbarschaftshilfe oder auch mit kurzfristig und spontan entstandenen Unterstützungsformen jenseits sozialstaatlicher Dienstleistungen. Gleichzeitig liess sich gesellschaftlich eine Rückbesinnung auf konservative Werte beobachten; der Rückzug in die eigenen vier Wände, die patriarchal organisierte Kernfamilie1 und ins Nationale. Ob die Schweiz ihre Grenzen aus eigenem Willen geschlossen hat, unter Zugzwang gegenüber den umliegenden Ländern stand oder einfach Handlungskompetenz signalisieren wollte: Die nationale Souveränität wurde bemüht und der Bund erhielt autoritäre Kompetenzen, welche in der Schweiz in jüngerer Zeit beispielslos sind. In der Krise hat sich gezeigt, wie schnell auch bei progressiv denkenden Menschen kritisches Bewusstsein gegenüber nationalistischem Denken in den Hintergrund tritt, wenn etwas „von aussen“ unsere Gesellschaft zu bedrohen scheint. Plötzlich seien wir alle gleich, ein Land von Wehrhaften, welches zusammenhalten muss. Dies zeigte sich an der (völlig unnötigen) Mobilisierung des Militärs und der teilweise erkennbaren Kriegsrhetorik, die uns suggerierte, dass wir nun zuerst auf uns, unser direktes Umfeld fokussieren müssen und die anderen Probleme (Klima, Kriege, Flucht etc.) gerade keinen Platz mehr in der Debatte haben.

Die Ideologie des Nationalismus generiert Solidarität durch Ausgrenzung. Deshalb sollten die Solidaritätsdebatte, die solidarischen Bekundungen und unbestrittenen und niederschwelligen Unterstützungsformen in Folge der Corona-Krise auch einer kritischen Gesellschaftsanalyse unterzogen werden. Die Frage der Solidarität war nationalistisch aufgeladen, das dem ganzen zu Grunde liegende Strukturproblem zeigte sich unter anderem daran, dass Menschen, die in von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffenen sozialen Verhältnissen leben, wie etwa „Sans Papiers“, weiterhin keinen Anspruch auf die sozialen Sicherungssysteme im Nationalstaat haben, sondern viel mehr noch einer zusätzlichen Prekarisierung ihrer sozialen Lage ausgesetzt waren und werden. Solidarität ohne politisches und gesellschaftskritisches Bewusstsein kann zu erneutem Ausschluss führen und damit dazu, dass Ungleichheit und gesellschaftliche Verhältnisse reproduziert oder gar weiter verstärkt werden.

Nationalismus und Kritik

Es bestehen verschiedene Definitionen für Nation und Nationalismus. Auch die Forschung kennt keine einheitliche Definition. Nationalstaaten, definiert über ein abgegrenztes Territorium und verbunden mit einem politischen Herrschaftssystem, sind ein Phänomen des modernen Zeitalters. Die Idee der Nation und des Nationalismus vereinen Ausgrenzung und Gleichberechtigung, Zwang und Emanzipation (vgl. Mense 2016: 8). In Hinblick auf die im September anstehende Begrenzungsinitiative der SVP sollte eine gesellschaftstheoretische Auseinandersetzung mit strukturellen und gesellschaftlichen Gründen für soziale Ungleichheit aus Sicht der Sozialen Arbeit geschehen. Dies bedingt, Nationalismus als elementaren Bestandteil der herrschenden Verhältnisse anzuerkennen. Warum ist es, selbst in Bedingungen der Krise, anscheinend nicht leicht eine antinationale Kritik zu formulieren, gerade wenn sie praktisch werden und über die Forderung nach einem linken Protektionismus hinausgehen soll2? Gegen eine lokale Produktion ist nichts einzuwenden. Bei dieser Argumentation gilt es darüber nachzudenken, dass die legitimen, durch Globalisierung bewirkten Unsicherheiten nicht auf Kosten der internationalen und emanzipativen Solidarität gehen. Die Nation ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Nationalismus schafft in seiner Form als nationale Identität eine falsche Einheit, überdeckt soziale Ungleichheiten und legitimiert auf diese Weise Herrschaft (Mense 2016: 69). Die Idee der Nation bedeutet ein Ungleichgewicht von Zugehörigkeiten, Ausgrenzung von Gruppen und versperrt den Blick auf tatsächliche Lebensumstände. Zugehörigkeiten zu konstruierten Kategorien wie Nation, Volk, Ethnie und Kultur sind nicht freiwillig, sondern ein Akt des Zwangs und damit der Gewalt (Mense 2016: 56). Historisch gibt es immer wieder Beispiele, wie Nationalismus zu personenbezogener Menschenfeindlichkeit und zu Gewalt und Abwertung gegenüber Minderheiten, Rassismus geführt hat. Rechtspopulistische Parteien wie die SVP nutzen die Kategorien Volk, Kultur, Nation etc. als zentrale Themen für ihre identitätspolitische Agenda, beispielsweise um Kürzungen bei der Sozialhilfe zu legitimieren.3

Offene Grenzen, ein neoliberales Konzept?

Dass es uns mitunter schwerfällt, praktische Kritik am Nationalismus zu formulieren und uns gleichzeitig ausdrücklich für die Personenfreizügigkeit auszusprechen, könnte damit zusammenhängen, dass die Errungenschaften der offenen Grenzen auf der einen Seite nicht Resultat eines gesellschaftlichen und linken Aufbruchs waren, sondern aufgrund neoliberalen Politik durchgesetzt wurden. Die Abkommen von Schengen und Dublin sind Produkte einer neoliberalen Marktlogik und brachten und bringen noch immer höchst problematische Formen der Gewalt gegen jene mit sich, die nicht dazu gehören. Rassistische Grenzpolitik wird zum Beispiel nicht aufgelöst, sondern einfach an die Peripherie verschoben. Auf der anderen Seite hat die Personenfreizügigkeit und die 2004 abgeschlossenen flankierenden Massnahmen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen für die in der Schweiz lebenden und arbeitenden EU-Staatsangehörigen gebracht, die dadurch kein Visum mehr brauchen und so den diskriminierenden Status des Saisoniers los sind. Dieser Arbeitnehmer*innen-schutz war vor allem hinsichtlich der erstarkten Forderungen nach Deregulierungen eine wichtige Errungenschaft.

Kritik aus Sicht Sozialer Arbeit

Woran setzt die Kritik an der Begrenzungsinitiative seitens der Sozialen Arbeit an? Trotz der berechtigten Skepsis gegenüber der Personenfreizügigkeit und der ihr zugrunde liegenden neoliberalen Wirtschaftslogik, ist die Initiative aus folgenden Gründen dezidiert abzulehnen:

  1. Mit der Initiative ist eine Stärkung des Nationalen, eine Tendenz zur Begrenzung demokratischer Rechte auf den Nationalstaat und der Versuch verbunden, die Macht der Privatwirtschaft zu stärken. Aus Sicht des Bündnisses für politische Soziale Arbeit verfolgt Soziale Arbeit den Auftrag der Stärkung von Autonomie aller Menschen und leistet damit einen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft (Widmer/Legatis/Studer 2018). Soziale Arbeit würde damit noch mehr auf ihre Kontrollfunktion reduziert. Der Abbau von struktureller, institutioneller, kultureller und subjektiver Diskriminierung, von systematischer Benachteiligung und Gewalt gehören zu den Kernaufgaben Sozialer Arbeit. Dadurch ergeben sich konkrete, politische Forderungen nach mehr Rechten und besseren Bedingungen für Menschen ohne oder nicht schweizerischem Pass.
  2. Kritik am Nationalismus heisst immer auch Kritik an Rassismus. Praktische Beispiele für antirassistische Soziale Arbeit sind die kostenlosen Anlauf- und Beratungsstellen, der kollektive Kampf für die Regularisierung von Sans-papiers und gegen racial profiling. Gegenüber der nationalistischen Ideologie, welche der Initiative zu Grunde liegt, lässt sich die mehrfach gestellte Forderung ins Feld führen, dass die Menschen da ein Mitspracherecht und demokratische Rechte haben sollen, wo sie leben und wohnen. Das geht allerdings nicht ohne den erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft.
  3. Es braucht seitens der Sozialen Arbeit politische Hinweise darauf, wovon die Initiative abzulenken versucht: Während ein Problem auf der Ebene bilateraler Abkommen diskutiert wird, drängen sich die Abwehr von Kürzungen der Existenzsicherung im allgemeinen sowie bei Asylsuchenden oder Drittstaatangehörigen im Besonderen durch die vergangenen und noch anstehenden Revisionen im Sozialstaat auf. Es geht um den Abbau der Hürden für Einbürgerungen, den Kampf gegen die Isolierung geflüchteter Menschen in den Bundesasyllagern und für existenzsichernde Löhne für Working-poor.
  4. Über die genannten Forderungen im Rahmen einer bestehenden nationalstaatlichen Ordnung hinaus, braucht es eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Konzept der Nationalstaaten und ihren Ambivalenzen. Dabei geht es nicht darum, eine komplette Auflösung jeglichen nationalen Gemeinschaftsgefühls zu fordern. Vielmehr geht es darum, dem Nationalismus mit einem neuen Internationalismus der Sozialen Arbeit zu begegnen, der soziale Ungleichheiten, Arbeitsbedingungen und strukturelle Bedingungen in globalem Kontext analysiert, kritisch reflektiert und gleichberechtigte Bedingungen schafft.

Mit der Ablehnung der Initiative ist es nicht getan: Auf struktureller Ebene geht es weiterhin darum, Kürzungen beim Sozialstaat entgegenzutreten und gleichzeitig die internationale Solidarität zu stärken. Die europäische Grenzpolitik der Schengen-Staaten gilt es zu kritisieren und gleichzeitig die Personenfreizügigkeit als soziale Errungenschaft positiv zu besetzen und von rechtspopulistischem Narrativ abzugrenzen.

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Literatur:

Mense, Thorsten (2016). Kritik des Nationalismus. 1. Aufl. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Wallach, Lori M. (2020). Eine andere Wirtschaftsordnung ist möglich. In: Le monde diplomatique. Ausgabe Mai 2020. 05/26. Jg

Widmer, Sina/Legatis, Thiemo/Studer, Tobias (2018). Soziale Arbeit gegen das Überwachungsgesetz. Zur Legitimation sozialer Kontrolle – Eine Kritik. In: Sozial Aktuell. (Nr. 11, November 2018). S. 36–38.

Ziegler, Jean (2020). Die Schande Europas: von Flüchtlingen und Menschenrechten.

1 Erste Studien weisen darauf hin, dass es vor allem die Frauen waren, die einen grossen Teil der zusätzlichen Care-Arbeit während des Lockdowns übernehmen mussten. Siehe hierzu die politischen Forderungen der «Eidgenössischen Kommission Dini Mueter» EKDM (https://ekdm.ch) oder auch die Analysen von Sarah Schilliger und anderen (vgl. beispielsweise den aktuellen Beitrag von Sarah Schilliger, Karin Schwiter, Jennifer Steiner und Jasmine Truong zum Thema «Grenzerfahrungen in der Betreuung von Betagten»; https://www.woz.ch/-a9d7).

2 Dies wurde beispielsweise in der Monatszeitschrift Le monde diplomatique von einem Autor gefordert, der die Krise positiv nutzen will, indem auf lokaler, nationaler und regionaler Ebene stärkere Wirtschaftsstrukturen geschaffen werden (vgl. Wallach 2020: 9).

3 Dass es der SVP nicht um Lohn- oder Arbeitnehmendenschutz geht, zeigte sich jüngst, als die SVP sich gegen die sogenannte Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose ausgesprochen hat. Präsident Albert Rösti argumentierte in der Arena von SRF, dass die älteren Arbeitnehmenden keine staatliche Hilfe benötigen, sondern einfach arbeiten wollen. Für diese Personengruppe wird die Sozialhilfe als unwürdig angesehen, wo hingegen unter 25-jährige und Ausländer*innen sich von Seiten der SVP den permanenten Vorwurf gefallen lassen müssen, sie seien arbeitsscheu und deshalb finanziell zu kürzen.